Buch: Hintergrundinformationen zum Thema Zugehörigkeit

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Buch: Buch: Hintergrundinformationen zum Thema Zugehörigkeit
Gedruckt von: Gast
Datum: Sonntag, 24. November 2024, 08:29

1. Einleitung

Diese Einleitung zur Themensammlung soll einen Überblick über die unterschiedlichen Dimensionen von Zugehörigkeit geben. In der medialen Debatte ist der Begriff eng mit Aspekten von Migration, Ethnizität und Nationalität verknüpft. Das ist aber nur ein kleiner Ausschnitt der Bandbreite des Begriffs. Wissenschaftlich betrachtet bietet Zugehörigkeit viel mehr Ansatzpunkte. Hier spielt die Selbstzuschreibung zu oder Mitgliedschaft in einer Gruppe eine zentrale Rolle. Ein solche soziale Gruppe kann hinsichtlich Größe, Intensität der Beziehungen und Formen der Kommunikation innerhalb der Gruppe variieren. Von einem Arbeitsteam über den Familien- und Freundeskreis bis hin zu so genannten "statistischen" Gruppen (etwa nach Geschlecht, Alter, Beruf) kann alles darunter fallen.

Typisch für Gruppen ist, dass Einzelne darin je nach Funktion bestimmte Rollen ausüben und eine Art sozialer Identität besteht - sich die Mitglieder der Gruppe also auch als solche wahrnehmen und von außen als solche wahrgenommen werden. In dieser Einleitung wollen wir uns deshalb auch dem Thema soziale Gruppen und soziale Identität als Grundlage für Zugehörigkeit kurz widmen.

Im Anschluss wollen wir in diesem Modul drei bedeutende Aspekte von Zugehörigkeit näher beschreiben: dem oft als kontroversiell angesehenen Begriff Heimat; dem gesellschaftlich höchst relevanten Thema Geschlecht und sexuelle Orientierung; und dem gerade für Jugendliche besonders heiklen Thema Konsum.


1.1. Dimensionen der Zugehörigkeit

Zugehörigkeit kann auf unterschiedlichen Dimensionen empfunden und verhandelt werden. Diese Dimensionen ergeben in ihrer Gesamtheit das, was wir Zugehörigkeit nennen.

Sumison und Wong haben zehn Dimensionen von Zugehörigkeit definiert:


  • Die emotionale Dimension umfasst Gefühle von Intimität, Liebe, Fürsorge und Engagement, die wiederum zu einem Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden beitragen. Sie ist auch mit Akzeptanz verbunden: sich gemocht, anerkannt, respektiert und "geeignet" fühlen.
  • Die soziale Dimension ist mit Gruppenzugehörigkeit und Bindungen in engen Netzwerken von Familie und Freunden verbunden. Sie bedeutet, sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen, sich zu kümmern und gepflegt zu werden, einen Beitrag zur eigenen Gemeinschaft zu leisten. Anerkennung und Teilhabe sind zentral.
  • Die kulturelle Dimension ist mit der Positionierung als Teil einer bestimmten Gruppe mit gemeinsamen Horizonten verbunden, die auf gemeinsamen Ideen, Wissen, Praktiken und Geschichten basieren. Gemeinsam legen diese fest, wie man bestimmte Situationen interpretiert und in ihnen handelt.
  • Die räumliche Dimension: Zugehörigkeit kann mit dem Ort verbunden sein: ein Ort, den man Heimat nennt; ein Ort, den man verlässt und zu dem man zurückkehrt; ein Ort, an dem man sterben und zur Ruhe kommen möchte.
  • Die zeitliche Dimension bezieht sich auf die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist, wie räumliche Zugehörigkeit, eng mit Ort, Raum und Landschaft verbunden, wird jedoch stark überlagert von Erinnerungen und historischen Verbindungen.
  • Die körperliche Dimension umfasst die physische Affinität zur Landschaft und eine tiefe, sinnliche Wertschätzung ihrer Sehenswürdigkeiten, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker und Texturen.
  • Die spirituelle Dimension ist mit "mehr als menschlichen" Formen der Zugehörigkeitserfahrung verbunden - zum Beispiel durch Verbundenheit und Kommunikation mit spirituellen Vorfahren und Gottheiten, durch spirituelle Gesetze und Rituale und durch alte Traditionen.
  • Die moralische & ethische Dimension: Zugehörigkeit kann als eine moralische und/oder ethische Verpflichtung mit tiefgreifender Verantwortung gegenüber Menschen, Orten und anderen Einheiten und ihrer Zukunft erlebt werden.
  • Die politische Dimension definiert sich als Staatsbürgerschaft und das Recht auf Beteiligung. Die Staatsbürgerschaft beruft sich auf Argumente darüber, wer authentisch dazugehört und wer nicht.
  • Die rechtliche Dimension bezieht sich auf Eigentum und nicht auf Mitgliedschaft. Die Rechtszugehörigkeit kann demokratische politische Prinzipien widerspiegeln - zum Beispiel das Recht auf Land oder auf Zugang zu Ressourcen.

1.2. Wir und die Anderen: Gruppendenken und Vorurteile

Unsere Gesellschaft ist charakterisiert durch das Denken in Gruppenkategorien von „Wir“ und „die Anderen“. Das zeigt die Debatte um die gesellschaftliche Zugehörigkeit von Migrant*innen und Flüchtlingen. Doch auch abseits der Migrationsdebatte ist unser Denken im Alltag von Gruppenkategorien bezüglich Geschlecht, Alter, Bildung, regionale Herkunft oder kulturellen Geschmack - und damit von Zugehörigkeit - bestimmt.

Eine Denkweise in Gruppenkategorien ist für Individuen problematisch, da sie die Gesellschaft teilt und langfristig zu Konflikten, politischer Instabilität und im schlimmsten Fall zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt.

 

Woher kommt das Denken in Gruppenkategorien und Vorurteilen?

Grundlage des Kategoriendenkens ist die sozialpsychologische Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppen nach Henri Tajfel und John Turner. Im Wesentlichen geht es dabei darum, dass Menschen selbst zufällig zustande gekommene Gruppenzugehörigkeiten dahingehend interpretieren, Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen und jene der Fremdgruppe zu benachteiligen.

Verstärkt werden die dargestellten Phänomene des „Eigengruppenfavoritismus“ und der „Fremdgruppenablehnung“ im Wettbewerb um knappe Ressourcen. Wie die Psycholog*innen Muzafer und Carolyn Sherif feststellten, kann ein solcher Wettbewerb in Verbindung mit ausgeprägtem Gruppendenken schnell zu gewaltbereiten Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen führen.

 

Wie lassen sich Vorurteile und Intergruppenkonflikte aufbrechen?

Ein zentraler Weg ist der Intergruppenkontakt (beschrieben von Gordon Allport), also das Schaffen von Begegnungsräumen für Angehörige unterschiedlicher Gruppen. Durch den Kontakt bauen sich Vorurteile ab, Mitglieder der Fremdgruppe werden mehr als Individuen wahrgenommen, weshalb man bei dem beobachteten Effekt auch von „Individuation“ spricht.

Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses der Individuation ist, dass die Beteiligten persönlichen Kontakt haben, sich auf Augenhöhe begegnen (gleicher Status in der Kontaktsituation) und vor allem ein gemeinsames Ziel verfolgen. Das gemeinsame Arbeiten mit Menschen aus anderen Gruppen kann helfen, die vermeintlich mit der Fremdgruppe verknüpften negativen Eigenschaften zu hinterfragen.

Ein weiterer Weg zum Abbau von Vorurteilen ist die Bereitschaft zur Selbstreflexion, d.h. sich selbst als Angehörige/r unterschiedlicher sozialer Gruppen wahrzunehmen. Dies führt dazu, die eigenen Denkweisen und Kategorisierungen im Kopf in Frage zu stellen und diese bewusst zu bekämpfen.

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Eine gute Zusammenfassung des Geschriebenen bietet dieses Video:


2. Gesellschaftlich bedeutende Aspekte von Zugehörigkeit

Drei sehr unterschiedliche, aber besonders wichtige Aspekte von Zugehörigkeit wollen wir nun näher beleuchten und Informationen dazu sammeln:

  • Heimat umfasst den räumlichen, sozialen und kulturellen Aspekt von Zugehörigkeit und die Konflikte darum (von demokratischen Auseinandersetzungen bis zum Krieg)
  • Geschlecht ist eine zentrale Kategorie von Zugehörigkeit hinsichtlich individueller Selbstentfaltung und in emotionalen Nahebeziehungen (Liebe, Sexualität; Familie)
  • Konsum ist Ausdruck und Motor von Zugehörigkeit innerhalb einer marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaft. Von „du bist, was du isst“ bis „du bist, was du hast“: Güter wie Kleidung und Smartphones bieten Möglichkeiten zur Signalisierung von Gruppenzugehörigkeit genauso wie Spielraum zum Ausdruck von Individualität.

2.1. Heimat

Lasst uns diesen Abschnitt mit einem Videobeitrag des WDR beginnen und zuerst einen Blick darauf werfen, was Schüler*innen einer multikulturellen Schule zum Begriff Heimat zu sagen haben:



Es wird deutlich, dass beim Begriff Heimat die nationale Zugehörigkeit eine Rolle spielt. Aber es ist ebenso klar, dass Heimat sich nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf der Basis von Nation oder Kultur, und auch nicht rein räumlich definieren lässt.

Interessant ist in dieser Hinsicht auch diese Forsa-Umfrage zum Thema "Bedeutung von Heimat" aus Deutschland. Hier ist - ähnlich wie bei den Schüler*innen - der Begriff überwiegend positiv besetzt und bezieht sich mindestens ebenso stark auf die soziale (Familie, Freunde) wie auf die räumliche Dimension (und hier wesentlich mehr auf den Wohnort als auf die Nation).





Die Ergebnisse des Eurobarometer 2018 über Verbundenheit zu Wohnort, Land und Europa bzw. EU verdeutlichen wiederum, dass das abstraktere und weiter entfernte Europa oder die bürokratische EU im Vergleich zu Wohnort und Nation weniger "Zugehörigkeitsgefühl" erzeugen.



"Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!" singt Herbert Grönemeyer im gleichnamigen Lied aus dem Jahr 1999. Beinahe alle Menschen sehnen sich nach Heimat, und die meisten verstehen sie wie Herbert Grönemeyer als ein Gefühl. Auch in Österreich lebende Zuwander*innen fühlen sich mit dem Land, in dem sie wohnen, zu einem weit überwiegenden Teil eng verbunden.




2.1.1. Globale Problemlagen im Themenfeld "Heimat"


Immer wieder entstehen um Heimat, verstanden als Ausdruck von sozialer, räumlicher oder kultureller Zugehörigkeit, mehr oder weniger intensiv ausgetragene Konflikte.

  • In gefestigten demokratischen Systemen werden diese üblicherweise argumentativ auf der politischen Ebene ausgetragen. Parteien und Zivilgesellschaft nehmen widerstreitende Positionen ein und setzen sich im öffentlichen Raum - in den Medien, im Internet, auf der Straße - darüber auseinander.

  • Wo die Mittel einer demokratischen Austragung eines Konflikts nicht ausreichend vorhanden sind, etwa in Diktaturen, Militärregimes, aber auch in "unechten" oder "illiberalen" Demokratien führen unterschiedliche Positionen zu Fragen von Zugehörigkeit oft zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Gewalt kann dabei von staatlichen (Militär, Polizei) und auch von nicht-staatlichen Akteuren (einzelnen Menschen oder Gruppen) ausgehen. Sie kann sich gegen das System und seine Vertreter*innen und/oder andere Gruppen, oder auch gegen Sachen und/oder Menschen richten. Terrorismus und Krieg sind die extremsten Formen, die gewaltsame Konflikte um Zugehörigkeit annehmen können.

Ich möchte nun noch kurz zwei Beispiele von global strukturierten Konflikten rund um Zugehörigkeit und Heimat vorstellen.

  • Zum einen die Auseinandersetzungen um das Kopftuch, die - derzeit vor allem im Kontext von Schulen diskutiert - als Paradebeispiel eines politischen Konfliktes um Zugehörigkeit und Heimat gelten können. Die Auseinandersetzung findet in sehr vielen Teilen der Welt statt, in Europa genauso wie in den USA, der Türkei oder dem arabischen Raum. Ich möchte hier das Beispiel Österreich herausgreifen. (Der Beitrag ist nicht ganz aktuell, fasst aber die wesentlichen Argumente gut zusammen. Für aktuelle Debatten bitte einfach die Zeitung aufschlagen. :-) )


  • Zum anderen betrachten wir den Krieg im Jemen. Über diesen ist wenig bekannt, obwohl er bereits seit fast 30 Jahren mehr oder weniger intensiv verläuft. Außerdem steht er sowohl hinsichtlich seiner Ursache (als religiöser Konflikt) als auch seiner Verlaufsform (internationale, auch ökonomische Verstrickungen) prototypisch für viele aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit und Heimat.

2.2. Geschlecht

Lasst uns zum Einstieg in das Thema wieder mit einem Video starten. Es macht deutlich, dass wir bereits sehr früh in der Kindheit mit Geschlechterrollen konfrontiert werden und dass dies unsere Perspektive auf die Welt stark einschränkt (das Video ist auf Englisch, aber es ist sehr klar, worum es geht).


Und hier noch etwas ausführlicher:



Geschlecht ist ein komplexes Thema, deshalb lohnt es sich, es sich hier etwas analytischer anzusehen.

In unserer Gesellschaft ist folgende Vorstellung vorherrschend (man bezeichnet diese als Heteronormativität): Es gibt von Natur aus zwei Geschlechter (Mann/Frau). Die beiden Geschlechter beziehen sich in ihrer Sexualität wechselseitig aufeinander (Mann begehrt Frau, Frau begehrt Mann).

Nach der amerikanischen Philosophin Judith Butler kann der Begriff Geschlecht aber weiter unterteilt werden, nämlich in

  • sex, also die anatomische Ausstattung mit primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen
  • gender, also die Erwartungen und Normen, die (vom sozialen Umfeld) an das jeweilige biologische Geschlecht geknüpft werden, sowie die (vom Individuum selbst) im Verhältnis dazu ausgebildete Geschlechtsidentität inklusive ihrer Darstellung nach außen, und
  • desire, also das romantische (= Liebe) und/oder erotische (= Sexualität) Begehren

Es wird deutlich, dass die Vorstellung von den zwei je wechselseitig aufeinander bezogenen Geschlechtern verkürzt ist. Die Realität hält deutlich mehr Geschlechter parat.

  • Es gibt Menschen, deren geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion und der Körperform nicht nur männlich oder nur weiblich ausgeprägt ist, sondern scheinbar eine Mischung darstellt (Intersexualität).
  • Unabhängig davon kann sich bei Menschen die selbst wahrgenommene Geschlechtsidentität oder die Darstellung nach außen vom biologischen Geschlecht unterscheiden. Menschen können sich geschlechtslos fühlen (Non-Gender), sich als Frau/Mann fühlen, obwohl sie als Mann/Frau geboren wurden (Transgender), sie können zeitweise eine andere Geschlechterrolle annehmen und diese darstellen (Transvestismus) oder sich teilweise weiblich und teilweise männlich oder irgendwo dazwischen fühlen und auch geben (Androgynie).
  • Schließlich richtet sich das romantische/erotische Begehren von Menschen manchmal auf Menschen des eigenen Geschlechts (Homosexualität) oder des eigenen und eines anderen Geschlechts (Bisexualität). Manchmal ist sexuelles Begehren unabhängig vom Geschlecht der anderen Person (Pansexualität) oder einfach nicht vorhanden (Asexualität).

Einen guten, auch für junge Menschen geeigneten Einblick in das Thema bietet die Grafik „Gender Einhorn“.


Zugehörigkeit in Bezug auf Geschlecht ist also eine komplexe Angelegenheit. Nicht alle SchülerInnen einer Klasse oder LehrerInnen einer Schule fühlen sich eindeutig als Frau oder Mann oder fühlen sich zu dem jeweils anderen Geschlecht hingezogen. Es ist wichtig, diese Perspektive aufzubrechen, wenn man über Geschlecht als Kategorie der Zugehörigkeit nachdenken will.


2.2.1. Globale Problemlagen im Themenfeld "Geschlecht"

Geschlecht ist Konfliktstoff. Wir alle kennen Auseinandersetzungen, in denen sich Menschen wegen der Rollenerwartungen, mit denen sie aufgrund ihres (wahrgenommenen) Geschlechts konfrontiert sind, wiederfinden. Die Sätze "Das ist doch nichts für eine Frau!" oder "Sei ein richtiger Mann!" haben alle schon einmal gehört. Viele Menschen fühlen sich von solchen Sätzen eingeschränkt oder verletzt, sie schämen sich für ihre Gefühle oder Handlungen.
Darüber hinaus erleben Frauen täglich Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts - etwa am Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, in der Politik - sowie sexuelle Belästigung und Gewalt, in der Öffentlichkeit genau so wie in der Familie. Oft führen diese Erfahrungen zu psychischen Erkrankungen wie etwa Substanzmissbrauch, Depressionen, Angst- oder Essstörungen bis zum Suizid.
Der Zusammenhang zwischen prägenden Rollenerwartungen und Gewalt gegen Frauen wird oft unter dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" diskutiert. Dieser verdeutlicht den gesellschaftlichen Schaden, der durch ein einschränkendes Verständnis von Geschlechterrollen, verstanden als zentrales Bindeglied zwischen personaler und sozialer Identität, entsteht.]

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Für einen Abbau von Diskriminierung, Gewalt und unterdrückender Rollenerwartungen setzt sich der Feminismus ein. Der Begriff bildet ein Dach für eine Vielzahl an gesellschaftlichen, politischen und akademischen Strömungen und sozialen Bewegungen, die für Gleichberechtigung, Menschenwürde und Selbstbestimmung aller Menschen jeglichen Geschlechts und unabhängig von ihrem Geschlecht eintreten.
Historisch ist der Feminismus der Aufklärung sowie den bürgerlichen Revolutionen im ausklingenden 18. Jahrhundert doppelt verbunden: Zum einen nährt sich daraus sein emanzipatorischer Grundgedanke; zum anderen kritisiert er den unvollständige Gleichheitsbegriff, der diesen Bewegungen zugrunde lag (Gleichheit von Männern).

Es gibt aber auch innerhalb der Bewegung um Gleichstellung unterschiedliche Visionen und zumindest argumentativ ausgetragene Konflikte. Denn in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und gesellschaftlichen Verhältnissen entfaltet das Geschlecht unterschiedliche Formen von Ungleichheit und Diskriminierung.
Aus dem so genannten Postkolonialismus entwickelte sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre die Erkenntnis, dass es einer eigenen feministischen Perspektive aus den Ländern des Globalen Südens Bedarf. Zu spezifisch sind die Problemlagen, etwa in Afrika, wo in vielen Ländern weibliche Genitalverstümmelung, Zwangs- und Vielehe an der Tagesordnung sind.

Ich möchte deshalb hier noch drei Beispiele anführen, wie Geschlecht in einem globalen Kontext auf unterschiedliche Art und Weise problematisiert werden kann.

  • Ein aktuelles (und höchst relevantes) Beispiel ist die Diskussion um den "Feminismus für die 99 Prozent", der die Debatte um Geschlechterleichstellung mit jener um globale Umverteilung von Macht und Ressourcen verknüpft: "Geschlecht" müsse mit "Status" bzw. "Klasse" und "Migration" in globalen Kontexten zusammengedacht werden, damit der Feminismus - mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen - kein europäisches oder nordamerikanisches Elitenprojekt werde. Es reicht nicht, wenn einige privilegierte Frauen Spitzenpositionen erreichen, wenn die unbezahlte oder schlecht bezahlte Pflegearbeit nach wie vor an Frauen mit niedrigem sozialen Status in "globalen Betreuungsketten" (global care chains) hängen bleibt.
    Über den Zusammenhang von Geschlecht, Migration und sozialer Ungleichheit in globalen Betreuungsketten spricht in diesem Podcast die Sozialwissenschafterin Helma Lutz:

  • Spannend ist in diesem Zusammenhang ein Blick nach Ruanda, das heute - 25 Jahre nach dem grausamen Völkermord von 1994 - in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen eine internationale Topposition einnimmt. Im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums lag das Land im Jahr 2018 auf Rang 6, Österreich im Vergleich dazu auf Rang 53. Ruanda hat mit 60 Prozent nicht nur den international betrachtet höchsten Frauenanteil im Parlament, auch die unternehmerische Tätigkeit von Frauen wird intensiv gefördert und es finden sich sehr viele Frauen in Führungspositionen. Doch auch hier ist nicht alles nur ideal, wie kritische Artikel zeigen.

  • Jahrelang haben die Hijras – Menschen, die sich einem „dritten Geschlecht“ zugeordnet fühlen – in Indien einen besonderen Platz in der Gesellschaft eingenommen. Sie werden sowohl verehrt als auch gefürchtet, gelten als machtvolle Wesen, die zwischen den Geschlechtern existieren, und sorgen für Glück und Fruchtbarkeit, indem sie auf Hochzeiten und bei Geburten tanzen. Aber wachsende Diskriminierung und ein fehlendes Verständnis für die Kultur der Hijras haben sie laut Peters an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Übrig geblieben ist nur noch eine Minderheit im Schatten des indischen Mainstreams.


2.3. Konsum

Auch diesen Abschnitt wollen wir wieder mit einem Video beginnen. Es verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit und Konsum, der als Identitätsstifter dient. "Ich kaufe, also bin ich" kann man also auch lesen als "Ich kaufe, also gehöre ich dazu". Auch was passiert, wenn man nicht mehr konsumieren kann (z.B. aufgrund von Arbeitslosigkeit und daraus reslutierendem Geldmangel), wird thematisiert. [Nach 14:24 könnt ihr das Video stoppen.]



Um den Zusammenhang zwischen Konsum und Zugehörigkeit geht es auch diesem Artikel, der 2012 in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschienen ist. Der wichtigste Teil daraus:

Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen. "Eines unserer stärksten Grundmuster ist unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit", sagt der Psychologe Arnd Florack von der Universität Wien. Und das spielt den Marketingexperten in die Hände. Marken sind bestens geeignet, um Gruppen zu identifizieren, denen man sich anschließen kann. [...] "Dazuzugehören war in der Evolution überlebenswichtig", sagt Florack.

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Auch der Zusammenhang zwischen Konsum und Zugehörigkeit ist komplex. Deshalb auch hier zunächst ein etwas analytischerer Blick auf das Thema (vgl. etwa Haupt 2018 oder Kühn & Koschel 2010):

Konsum ist nicht nur der Kauf einzelner Waren. Die meisten SoziologInnen verstehen darunter auch "kulturell geformte Praktiken, die sich auf den Kauf und die Verwendung von Gütern beziehen." Für sie ist Konsumhandeln zur dominanten Form des Alltagshandelns überhaupt geworden, das alle Lebensbereiche durchdringt. Man spricht von einer Konsumgesellschaft, in der die Identität der einzelnen Personen vom Konsum abhängt. Wenn Zugehörigkeit zu Familie, Religion, politischem Lager oder Beruf an Bedeutung verliert, so wird die eigene soziale Verortung durch Konsum immer wichtiger.

Über das Konsumverhalten zeigt der Mensch also, wo er gesellschaftlich steht, zu welchem Milieu, zu welcher Gruppe er gehört. Eine Vielzahl individueller Gruppenzugehörigkeiten trägt zur eigenen Identität bei, die meisten davon sind eng mit der Sphäre des Konsums verbunden: Ernährung, Musikgeschmack, Mode, Technik, Freizeitverhalten, Autos.

Wie eng Identität und Kaufverhalten bereits im Jugendalter miteinander verknüpft sind, lässt sich auf Schulhöfen beobachten. Wer sich Modetrends entzieht, wird schnell zum Außenseiter. Gleichzeitig dienen Jugendlichen vor allem Handy und Bekleidung aber auch zum Ausdruck von Individualität.

Konsum ist also nicht per se gut oder schlecht. Er hat Eigenschaften, die identitätsstiftend wirken, aber auch solche, die als identitätsgefährdend betrachtet werden müssen.

  • Konsum kann Orientierung geben, indem er (Selbsts-)Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Er kann auch gesellschaftliche Integration fördern, indem man dadurch Interessen artikuliert und mit Gleichgesinnten zusammentut (z.B. Veganismus). Und er kann Authentizität fördern, indem er neue Erfahrungen ermöglicht, die wiederum die eigenen Werthaltungen stabilisieren.

  • Konsum kann aber auch zu Fragmentierung führen, indem er soziale Vereinsamung und Verlust von Kommunikationsfähigkeit bedingt (z.B. übersteigerter Medienkonsum). Er kann auch zur Ausgrenzung führen, da er Zeit, Geld und Wissen verlangt, das nicht alle haben. Und er kann Entfremdung fördern, wenn er unreflektiert geschieht und das eigenständige Denken ersetzt.

Abbildung nach Kühn & Koschel 2010


2.3.1 Globale Problemlagen im Themenfeld "Konsum"

Konsum hat nicht nur Auswirkungen auf die eigene Identität und schafft Zugehörigkeit. In einem globalisierten Wirtschaftssystem, in dem Produkte schon in der Erzeugung über weite Strecken hinweg verschifft werden bevor sie im Einzelhandel landen, schließen sich daran massive weltweite Problemlagen an. Wenn Rohstoffe auf einem Kontinent geerntet oder abgebaut, auf einem anderen zu einem Produkt verarbeitet, die Produkte auf einem dritten verkauft und auf einem vierten entsorgt werden, stellt sich vor allem die Frage nach den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, die in diese Produktions- und Verarbeitungsprozesse involviert sind.

Es gibt viele Produktgruppen, die vorwiegend in Ländern des Globalen Südens mit schwachen menschen- und arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen und niedrigem Lohnniveau - oft unter Einsatz von Kinder- und Zwangsarbeit - erzeugt und entsorgt werden. Dazu gehören heute:

  1. Lebensmittel, v.a. Kaffee, Kakao/Schokolade, Bananen
  2. Textilien, v.a. Mode, Sport- und Arbeitskleidung
  3. Elektronikartikel, v.a. Handys, Computer, Fernseher
  4. außerdem Spielwaren, Natursteine für Garten- und Straßenbau oder Blumen
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Da das Problemfeld sehr groß und schwer durchschaubar ist, möchte ich mit euch einige Schlaglichter auf die verschiedenen Bereiche werfen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich über die Schattenseiten des Konsums als Motor der Zugehörigkeit zu informieren. Ihr könnt mich gerne nach mehr Quellen zu diesem Thema fragen.

  • Tee ist nach Wasser das meistgetrunkene Getränk auf der Welt. Das Aufgussgetränk wird aus den Blättern des ursprünglich in China beheimateten und nunmehr in gut 30 Ländern der Welt gezüchteten Teestrauchs gewonnen. Mehr als sechs Millionen Tonnen Teeblätter werden so jährlich geerntet und überwiegend zu grünem und schwarzem Tee verarbeitet. Was viele nicht wissen: Die Pflückerinnen und ihre Familien leben und arbeiten unter höchst problematischen Bedingungen.


  • Mit Mode (Bekleidung, Schuhe, Taschen und Accessoires) werden jährlich über 500 Milliarden Dollar umgesetzt. Das meiste davon mit so genannter Fast Fashion. Marken wie PRIMARK, H&M oder ZARA reagieren ganz kurzfristig auf neue Trends, bringen fast wöchentlich neue Kollektionen auf den Markt und das zu absoluten Niedrigpreisen. Spätestens seit dem Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes in Bangladesch 2013, bei dem mehr als 1100 Menschen starben und fast 2500 verletzt wurden, steht dieses Wirtschaftsmodell in der Kritik, weil es den Preis- und Zeitdruck in der Lieferkette weitergibt – bis zu den ArbeiterInnen, die die Mode unter menschenunwürdigen Bedingungen fertigen.




  • Die Elektronikschrottdeponie in Agbogbloshie befindet sich im gleichnamigen Stadtteil der Millionenmetropole Accra im westafrikanischen Ghana. Nordwestlich des Hauptgeschäftsviertels von Accra am Ufer der Korle-Lagune gelegen, leben hier 40.000 Menschen auf einer Fläche von etwa 1600 ha (16 km²) Land. Die Deponie steht sinnbildlich für die Auswirkung illegal eingeführten Elektronikschrotts, der aus Europa stammt. Bei der nicht organisierten und vollkommen unsachgemäßen Trennung der Wertstoffe – u. a. mit Hilfe von offenen Feuern – entstehen hochgiftige Dämpfe aus den Bauteilen. Aufgrund dessen gilt der Ort als einer der am schlimmsten verseuchten Orte der Welt.



  • In der Steinindustrie Indiens ist Kinderarbeit weit verbreitet. Bereits im Alter von sechs Jahren sind oft mehr Kinder in den Steinbrüchen als in der Schule anzutreffen. Generell ist Kinderarbeit in Asien aber auch in Afrika ein großes Problem: Laut UNICEF sind mehr als 190 Millionen Unter-14-Jährige weltweit davon betroffen. Sie sind neben Steinbrüchen vor allem in der Landwirtschaft (Kaffee-, Kakao-, Teeanbau), in Minen, in Fabriken und kleinen Werkstätten, als Haushaltshilfe oder im Straßenhandel tätig.
    Unter diesem Link findet sich auch zu diesem Thema ein Video.