Buch: Hintergrundinformationen zum Thema Zugehörigkeit

2. Gesellschaftlich bedeutende Aspekte von Zugehörigkeit

2.2. Geschlecht

Lasst uns zum Einstieg in das Thema wieder mit einem Video starten. Es macht deutlich, dass wir bereits sehr früh in der Kindheit mit Geschlechterrollen konfrontiert werden und dass dies unsere Perspektive auf die Welt stark einschränkt (das Video ist auf Englisch, aber es ist sehr klar, worum es geht).


Und hier noch etwas ausführlicher:



Geschlecht ist ein komplexes Thema, deshalb lohnt es sich, es sich hier etwas analytischer anzusehen.

In unserer Gesellschaft ist folgende Vorstellung vorherrschend (man bezeichnet diese als Heteronormativität): Es gibt von Natur aus zwei Geschlechter (Mann/Frau). Die beiden Geschlechter beziehen sich in ihrer Sexualität wechselseitig aufeinander (Mann begehrt Frau, Frau begehrt Mann).

Nach der amerikanischen Philosophin Judith Butler kann der Begriff Geschlecht aber weiter unterteilt werden, nämlich in

  • sex, also die anatomische Ausstattung mit primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen
  • gender, also die Erwartungen und Normen, die (vom sozialen Umfeld) an das jeweilige biologische Geschlecht geknüpft werden, sowie die (vom Individuum selbst) im Verhältnis dazu ausgebildete Geschlechtsidentität inklusive ihrer Darstellung nach außen, und
  • desire, also das romantische (= Liebe) und/oder erotische (= Sexualität) Begehren

Es wird deutlich, dass die Vorstellung von den zwei je wechselseitig aufeinander bezogenen Geschlechtern verkürzt ist. Die Realität hält deutlich mehr Geschlechter parat.

  • Es gibt Menschen, deren geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion und der Körperform nicht nur männlich oder nur weiblich ausgeprägt ist, sondern scheinbar eine Mischung darstellt (Intersexualität).
  • Unabhängig davon kann sich bei Menschen die selbst wahrgenommene Geschlechtsidentität oder die Darstellung nach außen vom biologischen Geschlecht unterscheiden. Menschen können sich geschlechtslos fühlen (Non-Gender), sich als Frau/Mann fühlen, obwohl sie als Mann/Frau geboren wurden (Transgender), sie können zeitweise eine andere Geschlechterrolle annehmen und diese darstellen (Transvestismus) oder sich teilweise weiblich und teilweise männlich oder irgendwo dazwischen fühlen und auch geben (Androgynie).
  • Schließlich richtet sich das romantische/erotische Begehren von Menschen manchmal auf Menschen des eigenen Geschlechts (Homosexualität) oder des eigenen und eines anderen Geschlechts (Bisexualität). Manchmal ist sexuelles Begehren unabhängig vom Geschlecht der anderen Person (Pansexualität) oder einfach nicht vorhanden (Asexualität).

Einen guten, auch für junge Menschen geeigneten Einblick in das Thema bietet die Grafik „Gender Einhorn“.


Zugehörigkeit in Bezug auf Geschlecht ist also eine komplexe Angelegenheit. Nicht alle SchülerInnen einer Klasse oder LehrerInnen einer Schule fühlen sich eindeutig als Frau oder Mann oder fühlen sich zu dem jeweils anderen Geschlecht hingezogen. Es ist wichtig, diese Perspektive aufzubrechen, wenn man über Geschlecht als Kategorie der Zugehörigkeit nachdenken will.


2.2.1. Globale Problemlagen im Themenfeld "Geschlecht"

Geschlecht ist Konfliktstoff. Wir alle kennen Auseinandersetzungen, in denen sich Menschen wegen der Rollenerwartungen, mit denen sie aufgrund ihres (wahrgenommenen) Geschlechts konfrontiert sind, wiederfinden. Die Sätze "Das ist doch nichts für eine Frau!" oder "Sei ein richtiger Mann!" haben alle schon einmal gehört. Viele Menschen fühlen sich von solchen Sätzen eingeschränkt oder verletzt, sie schämen sich für ihre Gefühle oder Handlungen.
Darüber hinaus erleben Frauen täglich Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts - etwa am Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, in der Politik - sowie sexuelle Belästigung und Gewalt, in der Öffentlichkeit genau so wie in der Familie. Oft führen diese Erfahrungen zu psychischen Erkrankungen wie etwa Substanzmissbrauch, Depressionen, Angst- oder Essstörungen bis zum Suizid.
Der Zusammenhang zwischen prägenden Rollenerwartungen und Gewalt gegen Frauen wird oft unter dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" diskutiert. Dieser verdeutlicht den gesellschaftlichen Schaden, der durch ein einschränkendes Verständnis von Geschlechterrollen, verstanden als zentrales Bindeglied zwischen personaler und sozialer Identität, entsteht.]

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Für einen Abbau von Diskriminierung, Gewalt und unterdrückender Rollenerwartungen setzt sich der Feminismus ein. Der Begriff bildet ein Dach für eine Vielzahl an gesellschaftlichen, politischen und akademischen Strömungen und sozialen Bewegungen, die für Gleichberechtigung, Menschenwürde und Selbstbestimmung aller Menschen jeglichen Geschlechts und unabhängig von ihrem Geschlecht eintreten.
Historisch ist der Feminismus der Aufklärung sowie den bürgerlichen Revolutionen im ausklingenden 18. Jahrhundert doppelt verbunden: Zum einen nährt sich daraus sein emanzipatorischer Grundgedanke; zum anderen kritisiert er den unvollständige Gleichheitsbegriff, der diesen Bewegungen zugrunde lag (Gleichheit von Männern).

Es gibt aber auch innerhalb der Bewegung um Gleichstellung unterschiedliche Visionen und zumindest argumentativ ausgetragene Konflikte. Denn in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und gesellschaftlichen Verhältnissen entfaltet das Geschlecht unterschiedliche Formen von Ungleichheit und Diskriminierung.
Aus dem so genannten Postkolonialismus entwickelte sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre die Erkenntnis, dass es einer eigenen feministischen Perspektive aus den Ländern des Globalen Südens Bedarf. Zu spezifisch sind die Problemlagen, etwa in Afrika, wo in vielen Ländern weibliche Genitalverstümmelung, Zwangs- und Vielehe an der Tagesordnung sind.

Ich möchte deshalb hier noch drei Beispiele anführen, wie Geschlecht in einem globalen Kontext auf unterschiedliche Art und Weise problematisiert werden kann.

  • Ein aktuelles (und höchst relevantes) Beispiel ist die Diskussion um den "Feminismus für die 99 Prozent", der die Debatte um Geschlechterleichstellung mit jener um globale Umverteilung von Macht und Ressourcen verknüpft: "Geschlecht" müsse mit "Status" bzw. "Klasse" und "Migration" in globalen Kontexten zusammengedacht werden, damit der Feminismus - mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen - kein europäisches oder nordamerikanisches Elitenprojekt werde. Es reicht nicht, wenn einige privilegierte Frauen Spitzenpositionen erreichen, wenn die unbezahlte oder schlecht bezahlte Pflegearbeit nach wie vor an Frauen mit niedrigem sozialen Status in "globalen Betreuungsketten" (global care chains) hängen bleibt.
    Über den Zusammenhang von Geschlecht, Migration und sozialer Ungleichheit in globalen Betreuungsketten spricht in diesem Podcast die Sozialwissenschafterin Helma Lutz:

  • Spannend ist in diesem Zusammenhang ein Blick nach Ruanda, das heute - 25 Jahre nach dem grausamen Völkermord von 1994 - in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen eine internationale Topposition einnimmt. Im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums lag das Land im Jahr 2018 auf Rang 6, Österreich im Vergleich dazu auf Rang 53. Ruanda hat mit 60 Prozent nicht nur den international betrachtet höchsten Frauenanteil im Parlament, auch die unternehmerische Tätigkeit von Frauen wird intensiv gefördert und es finden sich sehr viele Frauen in Führungspositionen. Doch auch hier ist nicht alles nur ideal, wie kritische Artikel zeigen.

  • Jahrelang haben die Hijras – Menschen, die sich einem „dritten Geschlecht“ zugeordnet fühlen – in Indien einen besonderen Platz in der Gesellschaft eingenommen. Sie werden sowohl verehrt als auch gefürchtet, gelten als machtvolle Wesen, die zwischen den Geschlechtern existieren, und sorgen für Glück und Fruchtbarkeit, indem sie auf Hochzeiten und bei Geburten tanzen. Aber wachsende Diskriminierung und ein fehlendes Verständnis für die Kultur der Hijras haben sie laut Peters an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Übrig geblieben ist nur noch eine Minderheit im Schatten des indischen Mainstreams.